Sibirien

1921 veröffentlicht, Gedichte entstanden 1915-1919 in russischer Gefangenschaft (1. Weltkrieg)

Waggon

Wir fahren und fahren und fahren
aus fern versinkender Schlacht
und fahren und fahren auf hölzernen Bahren
dahin durch den dröhnenden Tunnel der Nacht
und fahren und fahren, von Pfeifen umgellt,
von eisern sich knäuelnden Brücken umknattert,
vom Rädergepolter zu Larven zerrattert,
und fahren und fahren ans Ende der Welt.

Die Posten schnarchen. Die Lampe kocht.
blutröchelnd entwurmt sich dem Öle der Docht.
Der Ofen enthöllt Meteorenschwärme
verruchtester Glut auf und Nackte hier oben
und bringt uns zum Wühlen wie schlingernde Därme.
Doch die in den Mänteln da unten - sie toben
wie Tiere im Kreise auf allen Vieren,
um nicht am Boden zu Klumpen zu frieren.

Wir fahren und fahren und fahren
im rollenden, tollenden Irrenhaus
und fahren und fahren auf hölzernen Bahren -
drei Wochen schon fahren wir Tag und Nacht
und stieren zum winzigen Fenster hinaus,
vom Totenschädel des Mondes bewacht,
bis morgens im Ost bajonettumzackt
in höhnischem Wirbel die Sonne flackt.

Sibirien: 2


Baracke

Ein Darmgewühl von Menschen füllt,
schwarz von zerlochter Haut umhüllt,
der Pritschen Riesenwalskelett.
Als Eßtisch und zugleich als Bett,
als Spielbrett, Turngerät und Bank,
als Scheibtisch, Spültisch, Betstuhl, Gang
dient uns für jegliches Gelüst
dies drei Stock hohe Holzgerüst

Da lausen welche sich wie Affen
und zeigen sich die dürren Glieder
und wissen nicht, wie Rat zu schaffen.
Da heben welche kaum die Lider,
wenn es zum Essenholen geht,
und andre graben aus der Bibel
sich manche goldgefaßte Fibel
und schmücken damit ihr Gebet.

Da fangen welche endlos Fliegen
und fügen sie zu Ornamenten,
da meckern welche stets wie Ziegen
und andere berichten Enten.
Der knetet aus vermatschtem Brot
sich ein Plastik "Hungertod",
und viel mühen sich, aus Rinden
noch Nahrungsmittel zu erfinden.

Da nähen welche ihre Lappen
landkartenbunt zu toller Tracht.
Da kritzeln welche sich auf Pappen
die wüsten Szenen einer Schlacht -
und andere spielen ewig Schach -
und immer hält uns wie von ferne -
so haben es die Ungarn gerne -
ein Violingeschluchze wach.

Doch alle hassen sich erbittert -
das Haus ist eine düstre Woke,
darin es ruhelos gewittert
von mannig sprachzerspelltem Volke.
Der wilde Streit um das Stück Brot -
weh dem, der es nicht richtig teilt -
macht aller Augen fieberrot,
bis eine Faust den Wust zerkeilt.

Sibirien: 3


Verblödung

Und immer diese bleiern-schwüle Gliederschwere
und in der Seele diese leichengraue Leere.

Und immer dieses trübe kranksichwähnen
und dieses ekelfade durch die Zeit sich gähnen.

Und immer dieses: schlafen - essen, hungern und nicht schlafen können
in ödem Wechsel - das ein Leben nennen!

Sibirien: 16


Quarantäne

Wir dürfen nicht dies Haus verlassen -
lebendig sind wir drin begraben -
o, wie wir jeden von uns hassen
voll Angst, er könne Typhus haben.
Am Eingang stehn zwei große Kübel -
im ersten Kot, Urin im zweiten,
die Pest noch ärger zu verbreiten -
o, Herr, erlöse uns vom Übel.

O, hilf uns unsern Leib verlassen -
nur Tote läßt aus diesem Haus
der Posten in die Nacht hinaus -
ein kurzer Gang durch ein paar Gassen -
rasch stiehlt mir einer noch die Schuhe -
dann wirft man irgendwo mich ab
mit einem Fluch ins Massengrab -
und endlich hab' ich meine Ruhe.

Sibirien: 22


Schicksal

Ein Riesenarmschwung -
und des Schicksals Lasso pfeift,
das in erbarmungsloser Schlinge
dich durch die Weltarena schleift.

Du bist's - 
und doch - du fühlst in Sonnengleisen
tief, tief in dir ein zweites noch,
ein bessres Schicksal kreisen.

Sibirien: 23


Doch

Doch quält mich Gram, werf ich mein Netz
in der Erinnerung weites Meer
und zieh's heraus - und immer ist's
von Kostbarkeiten überschwer,
denk ich an dich!

Sibirien: 26


Wirbel

Ob mich ein Wille zielbewußt erschuf,
der nun als Ich aus mir nach außen tastet?
Ob, der in tausend Wesen mich umhastet,
mich Zufall aufgejagt mit blödem Huf?

Wachs' ich ins All mit mählichem Gestuf
gleich einem Bau, der niemals ruht noch rastet,
der jährlich neu mit Früchten sich belastet?
Ist deiner, dunkle Macht, auch mein Beruf?

Ward ich hinausgestoßen wie ein Degen,
wer riß mich aus der Scheide denn zum Fechten,
daß ich mich muß an fremden Blute laben?

O, düstrer Fluch - unsäglich lichter Segen,
sich aus des Hins verworren dunklen Schächten
verborgner Sterne glühndes Gold zu graben!

Sibirien: 45


Trost

Fünf Jahre nun schon diese Qual,
daß wie Kartoffeln hingeworfen
wir ohne Rettung hier verschorfen
in diesem öden Wartesaal.
Wohl fühlen wir es aus uns keimen -
ach, ohne Erde, Licht und Luft
wird uns zur Inzucht diese Gruft,
daß wir verfaulen und verschleimen.

Was hat uns hier ins Siel gebracht!
Die Frage macht mich noch verrückt.
Hat nicht, eh' wir das Schwert gezückt,
ein Priester es geweiht zur Schlacht?
Was ist uns Gott denn Gram geworden?
O hilf uns, reine Mutterliebe -
du Hoffnungsrest im Erdensiebe - 
wir wollten nicht, wir mußten morden.

Wir liebten einst - ein Mädchen der,
der seine Frau und macher auch
wohl im Bordell nur einen Bauch
und doch - wie heilig liebte er -
er fühlt's erst jetzt, nun fern vom Weib,
wie Wallachlenden seinem Leib,
umwuchert von verlaustem Filz,
enschwillt der Zeugung ekler Pilz.

Vergebens ballen wir die Hände,
zeigt uns der Posten seinen Rücken -
nur daß uns manchmal ein Entzücken
vergessen läßt die Käfigwände,
kommt uns durchs Hirn der Trost geweht -
o welch ein Trost - welch hündisch rüder,
daß es Millionen seiner Brüder
bei uns zu Haus nicht besser geht!

Sibirien: 65


Wende

Was treibt dich, grauser Krieg, noch immer weiter
zu schleppen deines Hasses Höllenbrände!
Wenn endlich nimmt dein Greuelritt ein Ende,
apokalyptischer Gewitterreiter!

Wie? treibt dich gar ein andrer - größrer Streiter,
wüst umzureiten auch die letzten Wände?
Wie? segnen dich gar zwei verklärte Hände?
Ist Christus gar dein heimlicher Begleiter?

Will sich schon jetzt, chaotischer Koloß,
aus deines Bluts entfesselten Kaskaden
ein neues Morgenrot den Völkern klären?

O, sähn wir endlich doch dein hagres Roß,
das tausendhufige - aus schwarzen Schwaden
der Liebe rotes Füllen uns gebären!

Sibirien: 69


Murmanbahn

Reisender, träumst du im Zug,
hör' aus den Schienen der Tausende Fluch.

Holz ist nicht Holz - aus jeglicher Schwelle
schreit eines Menschen verblutete Welle.

Über Gefangene - dreißigtausend - 
reißt der Expreß dich nach Norden brausend.

aus „Sibirien“
(nicht in die Veröffentlichung von 1921 aufgenommen worden)